Wie auf der Startseite angekündigt, bin ich bekennender Soziologe. Aus diesem Grund ist es mein Bestreben, das Potenzial von KI mit dem Potenzial meiner wissenschaftlichen Zunft der Sozialwissenschaften zusammenzubringen. Eigentlich komme ich eher aus der quantitativ-empirischen Richtung. Ich bin aber der Überzeugung, dass mit KI und ihrem Potenzial eine Sternstunde der qualitativen Sozialforschung bevorsteht. Bei den qualitativen Methoden fasziniert mich schon immer die Grounded Theory: Diese Form der empirisch-geleiteten während des gesamten Forschungsprozess offenen Theoriebildung habe ich bereits in meiner Dissertation über das Thema Mentoring zu schätzen gelernt.
Kernidee. Künstliche Intelligenz (KI) kann Grounded Theory (GT) dort stark machen, wo GT am meisten leistet: beim systematischen Vergleichen, beim vorsichtigen Abstrahieren und bei der expliziten Reflexion. Damit das gelingt, braucht es einen klaren theoretischen Rahmen (Glaser & Strauss, 1967; Charmaz, 2014), eine kritische Haltung zur Falsifikation (Popper, 1959, 1963) und ein Bewusstsein dafür, dass unsere Kategorien soziale Konstruktionen sind (Berger & Luckmann, 1966).
Ein theoretischer Rahmen für „KI × GT“
- GT als Vergleichsmaschine. Offenes Kodieren, konstantes Vergleichen und theoretisches Sampling bilden den Motor der Theoriebildung aus dem Material heraus (Glaser & Strauss, 1967). KI kann hier Vorarbeit leisten: segmentieren, Hinweise auf Wiederholungen geben, Gegencases vorschlagen – die interpretative Entscheidung bleibt beim Forschungsteam (Glaser, 1978; Corbin & Strauss, 2015).
- Konstruktivistische Erdung. In der konstruktivistischen GT werden Kategorien co‑konstruiert – zwischen Feld, Forschenden und Texten (Charmaz, 2014). KI ist dann keine neutrale Instanz, sondern ein weiterer Akteur in diesem Konstruktionsprozess, dessen Vorschläge wir transparent und reflexiv einbinden.
- Fallibilismus als Schutzgeländer. Poppers Falsifikationismus erinnert daran, dass vorläufige Kategorien aktiv der Widerlegung ausgesetzt werden sollen (Popper, 1959, 1963). In GT‑Sprache heißt das: negatives Sampling, gezielte Suche nach Gegenbeispielen, „Was müsste passieren, damit unsere Kategorie kippt?“.
- Wissenssoziologische Brille. Jede KI‑gestützte Kategorisierung „macht“ soziale Wirklichkeit sichtbar und unsichtbar zugleich. Berger & Luckmann (1966) liefern das Vokabular, um Reifizierungsrisiken zu benennen: Wenn algorithmische Vorschläge zu fixen Etiketten werden, droht Wirklichkeit zu erstarren.
Arbeitsprinzipien: Was GT braucht – wofür KI taugt
- Offenes Kodieren & Memos. KI kann semantische Ähnlichkeiten andeuten; benannt wird in vivo – nahe an der Feldsprache. Memos halten Abduktionen und Zweifel fest (Glaser & Strauss, 1967; Charmaz, 2014).
- Axiales/selektives Kodieren. Beziehungen zwischen Bedingungen–Handlungen–Konsequenzen strukturieren wir bewusst; KI hilft beim Auffinden seltener oder widersprechender Fälle (Corbin & Strauss, 2015).
- Theoretische Sensibilität. Nicht: „KI weiß mehr“, sondern: „Wir sehen anders“ (Glaser, 1978). KI ist ein Perspektivwechsel‑Generator, kein Orakel.
- Explizite Falsifikationsschleifen. Jede Zwischenkategorie erhält eine Gegenbeobachtungspflicht (Popper, 1959, 1963).
- Reifikationsbremse. Kategorien sind auch im Falle der KI soziale Konstruktionen (Berger & Luckmann, 1966) – deshalb Versionierung, Belegstellen und Rückbindung an Feldsprache.
SWOT‑Analyse: KI × Grounded Theory
Stärken
- Interpretative Skalierung: Größere Korpora werden vergleichbar bearbeitbar; konstantes Vergleichen wird schneller, ohne die interpretative Entscheidung aufzugeben (Glaser & Strauss, 1967; Corbin & Strauss, 2015).
- Theoretische Sensibilität als Praxis: KI bringt abweichende Muster auf den Tisch und schärft so die theoretical sensitivity (Glaser, 1978).
- Konstruktivistische Transparenz: Durch Memos und Audit‑Trails bleibt sichtbar, wie Kategorien entstehen (Charmaz, 2014).
- Kritische Selbstkorrektur: Gezielte „Widerlegungs‑Sprints“ operationalisieren Poppers Fallibilismus im GT‑Alltag (Popper, 1959, 1963).
Schwächen
- Voreilige Abstraktion: Modelle lieben Oberbegriffe; GT verlangt Bodenhaftung in in‑vivo‑Formulierungen (Charmaz, 2014).
- Reifizierungsrisiko: Algorithmische Labels können wie „Dinge“ wirken (Berger & Luckmann, 1966).
- Methodischer Zusatzaufwand: Parameter‑Logging, Gegenfall‑Suche, Versionspflege kosten Zeit – ohne Disziplin verwässert der Prozess (Corbin & Strauss, 2015).
Chancen
- Theoretisches Sampling in der Breite: Widersprüche und Randfälle werden schneller auffindbar – ideal für negative‑case‑Analysen (Glaser & Strauss, 1967; Popper, 1963).
- Begriffsarbeit schärfen: KI macht Sprachmuster sichtbar; wir prüfen, ob sie sich als emergente Kategorien halten lassen (Charmaz, 2014; Glaser, 1992).
- Lehre & Co‑Analyse: Kodierwerkstätten mit Studierenden/Praktiker:innen werden skalierbar – und stärken die konstruktivistische Haltung (Charmaz, 2014; Berger & Luckmann, 1966).
Risiken
- „Forcing“ statt „Emerging“: Wenn Prompts Kategorien aufzwingen, verlieren wir GT‑Kernlogik (Glaser, 1992).
- Scheinfalsifikationen: Statistische Signale werden als harte Widerlegungen missverstanden; Falsifikation bleibt theoretisch und materialsensibel zu gestalten (Popper, 1959; Corbin & Strauss, 2015).
- Entkontextualisierung: Entfernte Textschnipsel erzeugen Sinnartefakte; GT verlangt Nähe zum Fall und zum situativen Kontext (Strauss, 1987; Charmaz, 2014).
Praktische Leitplanken (kompakt)
- Assist‑only: KI schlägt vor, Menschen entscheiden – mit Belegstellen und Memo‑Pflicht (Charmaz, 2014).
- Negativfall‑Routine: Jede Zwischenkategorie erhält einen geplanten Gegenfall (Popper, 1963).
- In‑vivo‑Vorrang: Wo Feldsprache trägt, wird sie zum Code (Glaser & Strauss, 1967).
- Versionierung & Reflexion: Kategorien sind konstruiert und werden offen nachgeführt (Berger & Luckmann, 1966).
- Theoretical Sensitivity trainieren: Regelmäßig Sequenzen „blind“ rekodieren, um Mustersehgewohnheiten zu stören (Glaser, 1978; Strauss, 1987).
KI kann die praktische Seite der GT – Vergleichen, Suchen, Gegenbeispiele aufspüren – enorm stärken. Die epistemische Seite – vorsichtige Begriffsbildung, reflexive Haltung, fallibilistische Prüfung – bleibt menschliche Aufgabe. Gerade in der Spannung zwischen Poppers kritischem Rationalismus, der konstruktivistischen GT‑Praxis (Charmaz) und der Wissenssoziologie (Berger & Luckmann) liegt die Chance, skalierte Interpretation zu betreiben, ohne den GT‑Geist preiszugeben.
- Berger, P. L., & Luckmann, T. (1966). The social construction of reality: A treatise in the sociology of knowledge. Anchor Books. Online (Verlag/Referenz): Penguin Random House Higher Education (US). (PenguinRandomhouse.com)
Zusätzliche Katalog-/Nachweislinks: Google Books; Open Library. (Google Books) - Charmaz, K. (2014). Constructing grounded theory (2nd ed.). Sage. Online (Verlag): SAGE Publications. (collegepublishing.sagepub.com)
- Corbin, J., & Strauss, A. (2015). Basics of qualitative research: Techniques and procedures for developing grounded theory (4th ed.). Sage. Online (Verlag): SAGE UK. (Sage Publications)
Ergänzender Nachweis: Google Books. (Google Books) - Glaser, B. G. (1978). Theoretical sensitivity: Advances in the methodology of grounded theory. Sociology Press. Online (Verlag): Sociology Press (Buchseite). (sociologypress.com)
Bibliographischer Nachweis: Stanford Libraries; Google Books. (searchworks.stanford.edu) - Glaser, B. G. (1992). Basics of grounded theory analysis: Emergence vs. forcing. Sociology Press. Verlässlicher Nachweis (Katalog): Open Library; Google Books. (Open Library)
- Glaser, B. G., & Strauss, A. L. (1967). The discovery of grounded theory: Strategies for qualitative research. Aldine. Bibliographischer Nachweis (Katalog/Archiv): Open Library / Internet Archive-Eintrag zur Ausgabe. (Internet Archive)
- Popper, K. R. (1959). The logic of scientific discovery. Hutchinson. Verlagsseite (aktuelle Routledge-Lizenz): Taylor & Francis / Routledge. (Taylor & Francis)
Archiv-/Katalognachweise: Internet Archive. (Internet Archive) - Popper, K. R. (1963). Conjectures and refutations: The growth of scientific knowledge. Routledge & Kegan Paul. Verlagsseite (Routledge). (Routledge)
Archiv-/Katalognachweis: Internet Archive. (Internet Archive) - Strauss, A. L. (1987). Qualitative analysis for social scientists. Cambridge University Press. Verlagsseite (CUP). (Cambridge University Press & Assessment)
Katalog-/Archivnachweise: Open Library; Internet Archive. (Open Library)
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